Hans-Christian Walter - Systementwicklung
Fachbuch zur Wirtschaftsinformatik


 

 

 

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Inhalt

 

 

1 Ziel und Vorgehensweise


 

2 Projektorganisation

2.1 Überblick

2.2 Organisationsformen

2.3 Projektleiter

2.4 Zusammenarbeit mit einer Beratungsfirma

2.5 Phasenkonzept


 

3 Istanalyse

3.1 Überblick

3.2 Systemabgrenzung

3.3 Systemerhebung

3.3.1 Erhebungsmethoden

3.3.2 Erhebungsstrategie

3.4 Faktenanalyse

3.4.1 Überblick

3.4.2 Methoden der Schwachstellenanalyse

3.4.3 Ergebnisse der Faktenanalyse


 

4 Sollkonzept

4.1 Überblick

4.2 Systemabgrenzung

4.3 Zielbildung

4.4 Aufgabenbildung

4.4.1 Entwicklung eines Lösungsmodells

4.4.2 Entwicklung der Ablauforganisation

4.4.3 Gestaltung der Aufgaben

4.4.4 Gestaltung der Benutzerschnittstellen

4.5 Stellenbildung

4.6 Arbeitsplatzgestaltung


 

 

Kapitel 1

1. Ziel und Vorgehensweise

Ein Unternehmen kann sich nur dann am Markt halten, wenn es marktgerechte Produkte zu konkurrenzfähigen Preisen und Lieferzeiten anbietet. Dies setzt einerseits voraus, dass das Unternehmen ständig seine Kosten- und Qualitätssituation überwacht und verbessert. Andererseits müssen die Entscheidungen im Unternehmen aufeinander abgestimmt und in enger Verbindung mit der sich ständig bewegenden Marktsituation getroffen werden. Dies betrifft Innovationsentscheidungen bei der Produktentwicklung, Investitions- und Personalentscheidungen sowie Entscheidungen im Absatz-, Fertigungs-, Beschaffungs- und Qualitätsbereich. Hinzu kommt die Forderung nach einer umweltschonenden Produktion und Entsorgung der Produkte. Nicht ausreichende Marktnähe betrieblicher Entscheidungen gehört zu den häufigsten Ursachen für Umsatzrückgang, steigende Kapitalbindung und Beschäftigungsrückgang.

 

Diese Situation bringt hohe Anforderungen an die Planung und Abwicklung des betrieblichen Leistungsprozesses eines Unternehmens mit sich. Die einzelnen Absatz-, Fertigungs- und Beschaffungsvorgänge sind sowohl im Planungs- als auch im Ausführungsstadium ständig aufeinander abzustimmen, was mit erheblichen organisatorischen und informationstechnischen Problemen verbunden ist.

 

Ullrich charakterisiert die Situation wie folgt: "Die Konkurrenzfähigkeit eines Unternehmens entscheidet sich nicht nur durch ein gutes Produkt. Zukünftig wird auch eine gute innerbetriebliche Infrastruktur, die Informationen schnell und zielgerichtet zur Verfügung stellen kann, für die Behauptung auf dem Markt entscheidend sein" (Lit. Ullrich). Diese Infrastruktur lässt sich in der Regel nur mit Hilfe des Einsatzes eines leistungsfähigen EDV-Systems erreichen, bei dem weitgehend sämtliche Unternehmensbereiche einbezogen werden.


Abbildung 1 zeigt am Beispiel eines Industrieunternehmens die wichtigsten Aufgaben, für die der Einsatz der Informationstechnik von Bedeutung ist. In Form von ineinander greifenden Regelkreisen erfolgt die Realisierung des betrieblichen Leistungsprozesses, wobei das Informationssystem die Planung und Ausführung des Leistungsprozesses in optimaler Weise unterstützen muss. Dabei ist die Betrachtung häufig auf Kunden und Zulieferer auszudehnen.

 

 

Die Entscheidung eines Unternehmens, die betriebliche Organisation durch den Einsatz eines neuen EDV-Verfahrens  zu verändern, hat jedoch einschneidende Konsequenzen für die Entwicklung des Unternehmens und die betroffenen Mitarbeiter. Es ändern sich die organisatorischen Arbeitsabläufe, die Arbeitsinhalte, die Arbeitsverteilung, die Verantwortungsbereiche und die Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten (Lit. Schweim). Geht man davon aus, dass die bisherige Organisation über einen langen Zeitraum hinweg gewachsen ist und die Betriebsangehörigen es gelernt haben, sich auf die unterschiedlichsten Anforderungen einzustellen, so ist es verständlich, dass eine so wesentliche Veränderung Unruhe und Risiken mit sich bringt. Die Risiken liegen in der Akzeptanz des neuen Systems, im finanziellen Aufwand, in der zeitlichen Dauer der Einführung und in der Funktionsweise der neuen Organisation.

 

Eine weitere Schwierigkeit besteht für das Unternehmen darin, geeignete EDV-Lösungen zu finden, die die Anforderungen des Unternehmens abdecken. Zwar steigt das Angebot an Standardsoftware im betrieblichen Anwendungsbereich ständig, jedoch wird mit der Installation von Programmen noch kein arbeitsfähiges System geschaffen. Mit der Informationstechnik wird vielmehr ein technisches Hilfsmittel angeboten, das erst in ein System von Aufgaben und Arbeitsabläufen (Organisationssystem) eingebunden werden muss, um einen Lösungsbeitrag leisten zu können. In diesem Missverständnis befindet sich häufig ein Unternehmen, das sich mit dem Einsatz von Standardprogrammen beschäftigt, wenn es meint, es könne mit einem Programmpaket bereits eine betriebswirtschaftliche Lösung erhalten. Ein Standardprogrammpaket lässt sich mit einem "Werkzeugkasten" vergleichen. Das Arbeitsverfahren legt die Arbeitsweise mit den Werkzeugen fest, die zur Erzielung eines Arbeitsergebnisses erforderlich sind. Dabei kann es notwendig werden, die Werkzeuge zu verändern (Programmanpassung) oder auf einen speziellen Arbeitseinsatz hin neu zu entwickeln (individuelle Programmentwicklung).


Die Betrachtung eines EDV-Systems in seinem organisatorischen Umfeld führt zur Definition des Begriffes Anwendungssystem: Erst wenn ein EDV-System Arbeitsergebnisse liefert, die den geforderten Beitrag zur Aufgabenlösung des Unternehmens darstellen, wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff "Anwendungssystem" verwendet. Ein Anwendungssystem umfasst daher neben den Komponenten eines EDV-Systems die Arbeitsverfahren, die den Einsatz des EDV-Systems in seinem organisatorischen Umfeld regeln. Dieser Begriff lehnt sich an den von Seibt verwendeten Begriff "Anwendung" an (Lit. Seibt, Lexikon der Informatik und Datenverarbeitung, Stichwort: Anwendung).

 

Mit der vorliegenden Arbeit wird die genannte Problematik aufgegriffen. Ziel ist es, die Vorgehensweise bei der Entwicklung von Anwendungssystemen im betrieblichen Anwendungsbereich darzustellen. Dazu wird ein geschlossenes Konzept vorgelegt, das den Entwicklungsprozess in seiner Gesamtheit beschreibt. Das Konzept weist folgende Merkmale auf:

 

1.    Die Organisationslösung steht im Mittelpunkt des Entwicklungsprozesses. Die Benutzeroberfläche des EDV-Systems, die dem Aufgabenträger des Organisationssystems sichtbar wird, ist Bestandteil der Organisationslösung. Erst in einem weiteren Schritt werden Realisierungsmöglichkeiten für die Benutzeroberfläche gesucht. Dabei wird die Lösung auf der Basis eines Standardprogrammpaketes ebenso betrachtet wie die Entwicklung von Individualsoftware.

 

2.    Der Entwicklungsprozess wird in seiner Gesamtheit - von der Problemanalyse bis hin zur Einführung - beschrieben. Gerade bei betrieblichen Anwendungssystemen muss der Einführung aufgrund der zeitlichen Dauer, des Aufwandes und des Risikos ein erheblicher Stellenwert beigemessen werden. Die Einflussgrößen sind bereits bei der Planung des Systems zu berücksichtigen, beispielsweise bei der personellen Besetzung der Projektgruppe, dem Zielbildungsprozess und der Entwicklung von Einführungsstrategien.

 

3.    Hinsichtlich der verwendeten Entwurfs- und Darstellungsmethoden soll ein geschlossenes Konzept vorgelegt werden, in das sich die Aufgaben der Systementwicklung - Analyse des Istzustandes, Entwicklung der Organisationslösung (Sollkonzept), Entwurf der Software (Spezifikation), Erstellung der Programme (Implementierung), Einführung des EDV-Systems - lückenlos einpassen. Dies trägt zu einer besseren Zusammenarbeit von Anwender, Systemanalytiker und Software-Entwickler bei und erlaubt dem einzelnen Projektmitglied, Einblick in den gesamten Entwicklungsprozeß zu gewinnen.

 

4.    Das vorgelegte Entwicklungskonzept nimmt bei der Darstellung weitgehend auf bewährte Begriffe Bezug, wie sie in der Literatur verwendet werden. Da das Konzept jedoch auf die Entwicklung betrieblicher Anwendungssysteme hin ausgerichtet ist, enthält es eigene Schwerpunkte. Methoden werden konkretisiert, in einen neuen Zusammenhang gestellt und anhand ausführlicher Beispiele aus dem betrieblichen Anwendungsbereich erläutert.

 

 

Gerade der Entwicklung der Organisationslösung (Punkt 1) wird in der Literatur - aber auch in der Praxis - häufig nicht ausreichend Beachtung geschenkt. Die Beschränkung der Entwurfsphase auf die EDV-Lösung trägt der Problematik eines komplexen Anwendungssystems, bei dem das Zusammenspiel von Aufgabenträger und EDV-System im Vordergrund steht, nicht Rechnung. Achatzi beschreibt die Situation wie folgt: "Die traditionelle Vorgehensweise beinhaltet ... beträchtliche Risiken dahingegend, daß mit einem EDV-Design begonnen wird, bevor ein umfassendes Verständnis der vorliegenden Aufgabenstellung vorhanden ist. Daraus können Programme bzw. Systeme resultieren, die aus technischer Sicht in Hinblick auf die Softwaregestaltung ohne Fehler sind, die jedoch eine Vielzahl von Programmfehlern aufgrund eines falschen Verständnisses der Anforderungen beinhalten" (Lit. Achatzi, S.142).

 

Mit der vorliegenden Arbeit soll gerade in diesem Grenzbereich zwischen Betriebswirtschaftslehre und Informatik ein Beitrag geleistet werden, wobei weniger eine grundlegende theoretische Auseinandersetzung mit dem Gebiet als vielmehr die praktische Anwendbarkeit im Vordergrund steht.

 

In verschiedenen Teilen der Arbeit wird auf Grundlagenwissen eingegangen, wenn dies für das Verständnis weiterführender Darstellungen erforderlich ist. Auf eine ausführliche Behandlung der Grundlagen wurde jedoch bewusst zugunsten der Darstellung der methodischen Zusammenhänge verzichtet.

 

Im folgenden Kapitel 2 der Arbeit werden Formen der Projektorganisation angesprochen. Dabei wird ausführlich auf die Stellung und Qualifikation des Projektleiters sowie auf Möglichkeiten und die Problematik der Zusammenarbeit mit externen Beratungsfirmen eingegangen. Weiterhin wird ein Phasenkonzept für den Projektablauf des Entwicklungsprozesses vorgestellt, das in der weiteren Arbeit Verwendung findet.

 

Kapitel 3 behandelt die Istanalyse. Es werden Möglichkeiten der Abgrenzung und Erhebung des Istzustandes gezeigt. In diesem Zusammenhang wird eine Erhebungsstrategie vorgestellt, die bei der Erhebung betrieblicher Arbeitsbereiche in Industrie- und Handelsunternehmen erfolgreich erprobt wurde. Die Istanalyse schließt mit einer Schwachstellenanalyse und einer Darstellung des Änderungsbedarfs ab.

 

Kapitel 4 (Sollkonzept) stellt die Entwicklung der Organisationslösung in den Vordergrund. Es werden der Zielbildungsprozess sowie eine Methode zur Entwicklung von Lösungsmodellen aufgezeigt. Die aus dem Lösungsmodell hervorgehenden Aufgaben werden in eine Ablauforganisation eingebunden. Es erfolgt eine detaillierte Gestaltung der wesentlichen Aufgaben. Daraus resultiert die Definition der Benutzeroberfläche des EDV-Systems. Mit einer Stellenbildung und Arbeitsplatzgestaltung schließt die Entwicklung des Sollkonzeptes ab.

 

Kapitel 5 (Realisierungsplanung) beschreibt die Suche nach Realisierungs-alternativen des Sollkonzeptes. Es werden Vor- und Nachteile von Standard- und Individualsoftware aufgezeigt. Ein Kriterienkatalog zur Analyse von Standardprogrammen bildet die Basis für die Systemauswahl. In einem Pflichtenheft werden die Anforderungen an das Software-System festgehalten. Weiterhin wird in Kapitel 5 auf Einführungsstrategien sowie auf die Dauer und die Kosten für die Entwicklungs- und Einführungsschritte eingegangen. Am Ende der Realisierungsplanung erfolgt die Bewertung der Realisierungsalternativen und die Entscheidung.

 

In Kapitel 6 wird der Software-Entwicklungsprozess beschrieben. Bei der Entwicklung von Anwendungssystemen ist diese Phase dann von Bedeutung, wenn Individualsoftware erstellt oder Standardsoftware in größerem Umfang angepasst wird. Der Software-Entwicklungsprozess wird in eine Entwurfsphase (Systementwurf) und eine Realisierungsphase (Systemimplementierung) gegliedert. Ausgangspunkt bildet das Pflichtenheft, das die Anforderungen an das System aus der Sicht des Anwenders beschreibt (fachlicher Entwurf). Im Systementwurf werden die Anforderungen unter softwaretechnischen Gesichtspunkten spezifiziert (Definition) und in Algorithmen umgesetzt (Konstruktion). Die im Entwurf angewendeten Methoden sind auf die Entwicklung betrieblicher Anwendungssysteme hin ausgerichtet. Die Ergebnisse werden in einer geschlossenen Entwurfsdokumentation zusammengefasst, die dann im Sinne einer mitlaufenden Dokumentation zur System- und Benutzerdokumentation führt. Weiterhin werden Fragen zur Vorbereitung und Durchführung von Implementierungsarbeiten betrieblicher Anwendungssoftware behandelt.

 

Kapitel 7 gibt Hinweise zur Einführung eines betrieblichen Anwendungssystems. Es wird auf die Installation eines Systems, auf inhaltliche und organisatorische Vorbereitungsmaßnahmen des Systembetriebes sowie auf die Inbetriebnahme des Systems eingegangen. Die Vorbereitungsarbeiten zur Systemeinführung werden weitgehend den vorangehenden Phasen "Sollkonzept" und "Realisierungsplanung" zugeordnet. In der Praxis kann allerdings der Fall auftreten, dass diese Vorbereitungsarbeiten erst nach der Entscheidung über das EDV-System bei der Realisierung getroffen werden. Dafür lassen sich unterschiedliche, betriebsindividuelle Ursachen angeben. Das dargestellte Entwicklungskonzept kann entsprechend auf diese Situation hin angepasst werden.

 

In den Kapiteln 3 bis 7 wird der Entwicklungsprozess betrieblicher Anwendungssysteme in Form eines geschlossenen Vorgehens- und Dokumentationsmodells dargestellt, wobei die verwendeten Entwurfs- und Darstellungsmethoden unabhängig vom Einsatz computergestützter Werkzeuge behandelt werden. In Kapitel 8 wird eine Entwicklungsumgebung beschrieben, die mit entsprechenden Werkzeugen das dargestellte Vorgehens- und Dokumentationsmodell unterstützt. In der Entwicklungsumgebung ist eine weitgehend graphische Unterstützung der Ein- und Ausgaben der Systemspezifikationen vorgesehen. Die Dokumentation wird automatisch aufgrund der Spezifikationen erstellt. Weiterhin enthält die Entwicklungsumgebung einen Anwendungsgenerator, der es gestattet, die Software-Erstellung für typische betriebliche Anwendungen auf der Grundlage eines allgemeinen Benutzermodells automatisch vorzunehmen. Dadurch kann der Aufwand für die Software-Entwicklung entscheidend reduziert werden.

 

Das vorliegende Entwicklungskonzept ist auf betriebliche Aufgabenstellungen ausgerichtet. Wie die bisherigen Erfahrungen gezeigt haben, lässt sich dieses Konzept jedoch einfach auch auf andere Anwendungsbereiche übertragen. Stets wenn es um die Lösung eines komplexen Problems geht, bei dem zunächst eine detaillierte Analyse der Ausgangssituation erforderlich ist und dann stufenweise eine Lösung entworfen und realisiert werden soll, bietet das Entwicklungskonzept nützliche Hinweise und Lösungsstrategien.  Insofern richtet sich das Buch an Leser, die nach einem praktikablen und verständlichen Leitfaden für die Realisierung von Anwendungssystemen in unterschiedlichsten Anwendungsbereichen suchen.